Wer gewinnt die Bundestagswahl 2021 in den Wahlkreisen? Das ist 2021 eine besonders spannende Frage. Nicht nur weil viele Wahlkreise prominent besetzt sind – z.B. 061 Potsdam wo die Kanzlerkandidat*innen Scholz und Baerbock um das Direktmandat ringen –, einige Rennen sehr knapp ausfallen dürften, die Grünen auf mehr und die AfD auf den Wiedergewinn von Direktmandaten hoffen, sondern auch weil die Verteilung der Direktmandate ganz entscheidenden Einfluss darauf haben wird, wie groß der 20. Deutsche Bundestag sein wird.1

Anders als zur Zweitstimme mit der sogenannten “Sonntagsfrage” gibt es für Wahlkreise – hier entscheidet die Erststimme über das Direktmandat – sehr wenige bis gar keine Befragungen. Nationale Umfragen lassen sich nicht ohne weiteres zur Prognose von Wahlkreisergebnissen nutzen, denn, erstens, wird meistens nur nach der Zweitstimmen gefragt, und zweitens, stehen für jeden Wahlkreis maximal eine handvoll Befragte zur Verfügung während manchen Wahlkreise überhaupt nicht abgedeckt werden können. Wir gehen deshalb mit unserer Bürger*innenvorhersage einen anderen Weg.

Wir befragten dazu eine nicht-repräsentative Stichprobe von Bürger*innen in allen 299 Bundestagswahlkreisen – aber wir fragten nicht wen sie wählen würden, sondern wer ihrer Meinung nach gewinnen würde. Konkret fragten wir mindestens 20 Personen pro Wahlkreis nach dem oder der Gewinner*in des Direktmandats, der Verteilung der Erststimmen im Wahlkreis und der Verteilung der Zweitstimmen bundesweit. Die Idee hinter unserer Herangehensweise ist simpel: Auch der glühendste Anhänger der zum Beispiel FDP wird realistisch einschätzen können, dass seine Partei keine Chance auf das Direktmandat hat, beispielsweise weil die Kandidierenden anderer Parteien in der Vergangenheit erfolgreicher waren. Weiterhin kennt er oder sie sich vor Ort aus und kann einschätzen wie sich der Wahlkreis demographisch und politisch in den letzten vier Jahren entwickelt hat. Wir erhoffen uns daher von unserer Bürger*innenvorhersage bessere Vorhersagen der Direktmandatsgewinner*innen als sie durch sogenannten “Unit” oder “Proportional Swing”-Ansätze (siehe z.B. zweitstimme.org) oder einfache Heuristiken wie “Die gleiche Partei wie letztes Mal gewinnt” möglich sind. Diese können nämlich den Wechsel von Direktmandaten von einer zu einer anderen Partei, welche dem allgemeinen Bundestrend entgegenlaufen, nicht vorhersehen. Dieses Verfahren wurde bereits in anderen Ländern wie den USA oder dem Vereinigten Königreich, die ein reines Mehrheitswahlrecht anwenden, erfolgreich für Wahlprognosen umgesetzt. Wie erfolgreich Bürger*innenvorhersagen in Deutschland sein können wird sich hier erstmals nach dem Wahlsonntag nach Bekanntgabe der vorläufigen Endergebnisses zeigen. Im folgenden dokumentieren wir unsere Bürger*innenvorhersage.

Bürger*innenvorhersage der Direktmandatsgewinner*innen

Die Karte (Abb. 1) stellt unsere Prognose auf Basis der Erwartungen der Befragten dar. In 286 Wahlkreisen ergab sich eine relative Mehrheit der Erwartungen der Befragten für eine*n einzige*n Kandidat*in, in 23 Wahlkreisen waren zwei Kandidat*innen in den Erwartungen gleich auf (siehe auch Tab. 1). Doch auch in anderen Wahlkreisen, das muss betont werden, darf man einen spannenden Wahlabend erwarten. In vielen Wahlkreisen liegt der oder erstplatzierte Kandidat*in in den Erwartungen der Befragten nur knapp vor der oder dem zweitplatzierten Kandidat*in. Der Tooltip nach Mouseover in Abb. 1 gibt Auskunft, welcher Anteil der Befragten im Wahlkreis die jeweiligen Kandiderenden als Gewinner*in vorhersagten.

Abb. 1: Bürger*innenvorhersage der Direktmandatsweginner*innen und Zweitplatzierte in den Wahlkreisen zur Bundestagswahl 2021

Die meisten Direktmandate dürfte nach den Erwartungen unserer Befragten, wie auch schon 2017, die CDU auf sich vereinigen (siehe Tab. 1). Sie wird, wenn sich die Erwartungen unserer Befragten bewahrheiten, mit 129 Direkmandaten jedoch hinter ihrem Ergebnis von 185 Direktmandaten in 2017 zurückbleiben.2 Die CSU kann sich, vertraut man auf unsere Befragten, wieder Hoffnung auf alle 46 bayerischen Direktmandate machen. Nur in Fürth sieht eine Mehrheit der Befragten dort den Kandidaten der SPD vorne. Der SPD wird in 98 Wahlkreisen von der Mehrheit der dortigen Befragten der Gewinn des Direktmandats zugetraut. Das wären 39 Mandate mehr als 2017 und damit fast eine Verdopplung ihrer Direktmandatszahl.

Tab. 1: Gewonnene Direktmandate pro Partei gemäß der Bürger*innenvorhersage
Partei Direktmandate
CDU 129
SPD 98
CSU 45
Kopf-an-Kopf 13
Grüne 7
AfD 5
Linke 2
Andere 0
FDP 0

Die Grünen dürfen sich Hoffnung darauf machen, ihr bisher einziges Direktmandat in Berlin-Friedrichshain-Kreuzberg - Prenzlauer Berg Ost zu verteidigen und sechs weitere Direktmandate hinzuzugewinnen. Die Befragten in Kiel, Frankfurt am Main II, Stuttgart I, Esslingen, Heidelberg und Freiburg gehen mehrheitlich von einem grünen Direktmandat in ihrem Wahlkreis aus. Die Linke sehen nur die Befragten in Berlin-Lichtenberg und Berlin-Treptow-Köpenick vorn, während die Befragten in Berlin-Marzahn mehrheitlich davon ausgehen, dass die CDU der Linken das Direktmandat abnehmen wird. Zwei Direktmandate würden nicht für den Fraktionsstatus reichen, falls die Partei bundesweit an der Fünfprozenthürde scheitern sollte. Eine Mehrheit der Befragten in allesamt sächsischen Wahlkreisen geht davon aus, dass die AfD das Direktmandat in ihrem Wahlkreis gewinnt. Das wären drei Direktmandate mehr als noch 2017. Der FDP wird in keinem Wahlkreise von einer Mehrheit der dort befragten ein Direktmandat zugetraut. Die Partei dürfte damit weiterhin die einzige Fraktion ohne Direktmandate bleiben.

In der sortier- und durchsuchbaren Tab. 2 sind nochmal die Prognosen für alle Wahlkreise tabuliert.

Bürger*innenvorhersage des bundesweiten Zweitstimmenergebnisses

Wir fragten alle Befragten außerdem nach ihren Erwartungen zum bundesweiten Wahlergebnis nach Zweitstimmen, welches die Sitzverteilung im Deutschen Bundestag bestimmt. Alle Befragten konnten Stimmanteile auf die Kandierenden aller im Bundestag vertretenen Partien und die Residualkategorie “Andere” verteilen, welche sich insgesamt zu 100% summieren mussten. Als Prognose des Wahlausgangs berechneten wir das ungewichtete arithmetische Mittel aller Antworten pro Partei (siehe Tab. 3). Wir berechneten ebenfalls den Median und um die Varianz in den Schätzungen der Befragten darzustellen auch die Standardabweichung.

Tab. 3: Bürger*innenvorhersage des bundesweiten Zweitstimmenergebnisses
Partei Prognose (Durchschnitt) Prognose (Median) Standardabweichung N
SPD 25.0 25 10.4 6448
CDU/CSU 23.4 22 10.4 6448
Grüne 16.4 17 8.1 6448
AfD 10.5 10 10.8 6448
FDP 10.4 10 6.8 6448
Linke 7.9 7 7.0 6448
Andere 6.4 5 10.8 6448

Unsere Zweitstimmen-Prognose beruht auf den Antworten von insgesamt 6448 Befragten. Die Verteilung der Antworten der Befragten haben wir zusätzlich auch in einem sogenannten Boxplot visualisiert (siehe Abb. 2`).3

Abb. 2: Bürger*innenvorhersage des bundesweiten Zweitstimmenergebnisses

Abb.  2: Bürger*innenvorhersage des bundesweiten Zweitstimmenergebnisses

Die Autoren

Mark A. Kayser, PhD ist Dean of Research and Faculty und Professor of Applied Quantitative Methods and Comparative Politics an der Hertie School, Berlin. Er arbeitet zu Parteienwettbewerb und Wahlverhalten und entwickelte Prognosemodelle zu den Bundestagswahlen 2013, 2017 und 2021.

Arndt Leininger, PhD ist Juniorprofessor für Politikwissenschaftliche Forschungsmethoden an der Technischen Universität Chemnitz. Er arbeitet zur Wahl- und Einstellungsforschung. Er entwickelte Prognosemodelle zu den Bundestagswahlen 2013, 2017 und 2021 und beriet 2017 YouGov bei der Entwicklung des YouGov Wahlmodells.

Andreas Murr, PhD ist Associate Professor in Quantitative Political Science an der Universität Warwick (England). Er arbeitet zu politischen Verhalten und öffentlicher Meinung. Er entwickelte Wahlerwartungs-Prognosemodelle unter anderem zu den britischen Unterhauswahlen 2015 und 2019 sowie zu den US-Präsidentschaftswahlen 2020.

Dr. Lukas F. Stoetzer ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Exzellenz Cluster Contestations of the Liberal Script (SCRIPTS) an der Humboldt-Universität zu Berlin. Er arbeitet zu politischem Wahlverhalten und quantitativer Methodenentwicklung. Zur letzten Bundestagswahl entwickelte er das Vorhersageportal zweitstimme.org.

Methodik

Wir haben mit respondi eine nicht-repräsentative Stichprobe von wahlberechtigten Bürger*innen online nach ihren Erwartungen über den Ausgang der Wahl befragt (Feldzeit 6.–22. September 2021). Wir fragten nach den Erwartungen zum Gewinner oder zur Gewinnerin des Direktmandats, zur Verteilung der Erststimmen im Wahlkreis sowie dem bundesweiten Zweitstimmenergebnis. Die Frage nach dem oder der Direktmandatsgewinner*in lautete “Welcher Kandidat oder Kandidatin wird bei der Bundestagswahl in Ihrem Wahlkreis die meisten Stimmen gewinnen?”. Die Frage nach dem Erststimmenergebnis lautete “Wie viel Prozent der Erststimmen werden die verschiedenen Kandidaten und Kandidatinnen in Ihrem Wahlkreis erhalten?” - die Befragten konnten Stimmanteile auf die Kandiderenden aller im Bundestag vertretenen Partien und die Residualkategorie “Andere” verteilen, welche sich insgesamt zu 100% summieren mussten. Die Frage nach den Zweitstimmenanteilen lautete “Wie viel Prozent der Stimmen erwarten Sie, werden die verschiedenen Parteien bundesweit erhalten?” - auch hier konnten die Befragten Stimmanteile verteilen. Die Befragten wurden zuvor über ihre PLZ ihrem Wahlkreis zugeordnet, um Ihnen die Namen der Kandierenden der jeweiligen Parteien in ihrem Wahlkreis anzuzeigen. Pro Wahlkreis wurden mindestens 20 Personen befragt (\(\bar{N}=21.6\)). Für eine Befragung zur individuellen Wahlabsichten wären diese Fallzahlen deutlich zu gering, fragt man jedoch nach dem erwarteten Ausgang der Wahl so zeigt sich u.a. bisher in den USA und dem Vereinigten Königreich, dass sich schon mit geringen Fallzahlen pro Wahlkreis gute Prognosen erzielen lassen.4

Die Prognose der Direktmandatsgewinner*innen erfolgt über den Modalwert der genannten Kandidat*innen, das heißt, die oder der am häufigsten genannte Kandidierende wird als Gewinner*in prognostiziert. In der Karte wird zudem für erst- und zweitplatzierte Kandidat*innen angeben wieviele Befragte (in %) in dem Wahlkreis die jeweilige Kandidat*in als voraussichtliche Sieger*in sahen. Die Prognose für das bundesweite Wahlergebnis nach Zweistimmen berechnet sich durch das arithmetische Mittel (Tabelle 3) und alternativ den Median (Abbildung 2).

Prognosen für alle Direktkandidat*innen (der im Bundestag vertretenen Parteien plus “Andere”) in allen 299 Wahlkreisen finden sich in diesem Google Sheet. Eine Veröffentlichung der Rohdaten der Befragung erfolgt zu einem späteren Zeitpunkt im Rahmen einer wissenschaftlichen Veröffentlichung.


  1. Eine anschauliche Erläuterung des deutschen Wahlrechts und warum die Gesamtmandatsanzahl vom Wahlergebnis abhängt findet sich bei der Bundeszentrale für politische Bildung.↩︎

  2. Für die aktuelle Verteilung der Direktmandate auf die Fraktionen im 19. Deutschen Bundestag siehe https://www.bundestag.de/abgeordnete/biografien/mdb_zahlen_19/direktmandate_landeslisten-529512.↩︎

  3. Die “Box” visualisiert den Bereich in dem 50% der Antworten unserer Befragten liegen, der vertikale Strich in der Box zeigt den Medianwert an. Siehe auch https://de.wikipedia.org/wiki/Box-Plot für weitergehende Erläuterungen.↩︎

  4. Siehe z.B. Murr, A., Stegmaier, M., & Lewis-Beck, M. (2021). Vote Expectations Versus Vote Intentions: Rival Forecasting Strategies. British Journal of Political Science, 51(1), 60-67. doi:[10.1017/S0007123419000061](https://doi.org/10.1017/S0007123419000061)↩︎